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Libanon: Christen und Muslime im Protest vereint - Interview mit Ezrbischof Issam John Darwish, Libanon/Zahle 15.1.2020

Die politische und wirtschaftliche Krise steht im Zusammenhang mit der Migrationswelle aus den Nachbarländern

Der Libanon zählt zu den vierzig kleinsten Ländern der Welt und dennoch beherbergt er die meisten Flüchtlinge pro Einwohner. Aufgrund seiner Nähe zu Israel und Syrien haben tausende Palästinenser und Syrer in diesem Land Zuflucht gefunden, das – obgleich es in den 1990er Jahren einen grausamen Krieg durchlitten hat – eines der am stärksten demokratisch geprägten Länder im Nahen Osten ist. Die Anwesenheit von über einer Million Flüchtlinge hat der Regierung eine schwere Bürde auferlegt und zu einer Verschlimmerung der politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes geführt. In einem Interview mit Maria Lozano von der päpstlichen Stiftung Aid to the Church in Need (ACN) spricht der Erzbischof von Furzol, Zahlé und der Bekaa-Ebene der melkitischen griechisch-katholischen Kirche, Issam John Darwish, über die Proteste und Demonstrationen, die seit dem 17. Oktober 2019 im gesamten Land stattfinden, sowie über die Immigration und ihre Folgen.

 

ACN: Welche Position nimmt die Kirche gegenüber den Protesten im Libanon ein? Und wie lauten die wichtigsten Forderungen der Menschen?
Die Demonstrationen in diesem Land haben einen rein wirtschaftlichen Hintergrund. Religion hat damit überhaupt nichts zu tun. Die Christen können in der Regel ohne Probleme ihren Glauben leben und ihre Gottesdienste feiern. Hauptauslöser der Demonstrationen war der Plan der Regierung, den Bürgern zusätzliche Steuern aufzuerlegen. Der Großteil der Menschen, die an den Demonstrationen teilnehmen, hat nun kein Vertrauen mehr in die Regierung. Zu ihren wichtigsten Forderungen gehören eine Regierung aus Spezialisten zur Rettung des Landes, die Offenlegung der Bankkonten von Politikern und die Rückgabe gestohlener Gelder.

ACN: Wer sind die Demonstranten? Sind es in erster Linie junge Menschen wie in anderen Ländern, in denen es zu Protesten in der Gesellschaft kommt? Haben die Menschen Ihrer Meinung nach eine reelle Chance, gehört zu werden?
Tatsächlich protestieren alle: Männer und Frauen, junge und alte Menschen, Christen und Muslime, Studenten und Eltern. Und die Demonstrationen beschränken sich nicht auf einen Ort. Überall im Libanon kommt es zu Demonstrationen, auch in Zahlé.

Die Menschen tun, was sie können, um sich Gehör zu verschaffen. Politiker halten Reden und versprechen, sie seien bereit, etwas zu verändern, aber die Menschen haben anscheinend jegliches Vertrauen in sie verloren. Sie fordern ihren Rücktritt.

ACN: Glauben Sie, dass diese Ereignisse sich positiv auf die Einheit des Landes auswirken werden?
Diese Ereignisse sind sicherlich etwas, das es im Libanon so noch nie gegeben hat. Die Menschen stehen vereint hinter ihren lebensnahen Forderungen. Christen und Muslime in allen Regionen des Libanons stehen verein hinter den gleichen Forderungen. Sie sagen „Nein“ zu Steuern, verlangen eine Krankenversicherung, verlangen Elektrizität, beschweren sich über Korruption und die sehr schlechte wirtschaftliche Situation, in der sie sich befinden. Diese Demonstrationen haben keinen politischen Hintergrund. Die Menschen fordern alle Politiker zum Rücktritt auf.

ACN: Alle religiösen Führer haben diese Menschen unterstützt, einzige Ausnahme waren die Schiiten. Warum?
Auf diese Frage habe ich keine Antwort. Es könnte einen politischen Grund geben oder sie haben Angst, dass wir im Falle eines Rücktritts der Regierung einen dramatischen wirtschaftlichen Zusammenbruch erleben. Davor haben einige Politiker und religiöse Führer Angst.

Wie wirken sich die Demonstrationen auf den Alltag in Ihrer Gegend aus?
Bisher sind die Menschen an alle notwendigen Dinge gekommen. Sollten die Demonstrationen jedoch länger andauern und es keine Lösung seitens der Regierung geben, könnten größere Probleme auf uns zukommen. Jeden Morgen werden die meisten Straßen von den Demonstranten blockiert. Darum kommen viele Menschen nicht an ihren Arbeitsplatz.

ACN: Der Libanon beheimatet weltweit die meisten Flüchtlinge pro Einwohner. Kümmert sich die Kirche in Zahlé ebenfalls um Flüchtlinge?
Nach nunmehr acht Jahren seit Beginn der Krise in Syrien liegt die geschätzte Zahl der syrischen Flüchtlinge bei über 1,5 Millionen. Hinzu kommen zahlreiche palästinensische Flüchtlinge. Und es ist kein Ende dieser Situation in Sicht. Unsere melkitische griechisch-katholische Erzdiözese von Zahlé und der Bekaa-Ebene hat eine führende Rolle bei der Hilfe für die vertriebenen Syrer übernommen. Seit Beginn ihrer Flucht in den Libanon bis heute unterstützen und helfen wir insbesondere christlichen Flüchtlingen.  Die europäische und internationale Gemeinschaft ignoriert sie, da sie außerhalb der Lager leben. So werden sie immer vernachlässigt. Die Zahl dieser vertriebenen christlichen Familien beläuft sich auf über 2000, davon befinden sich 800 Familien in unserer Region.

ACN: Das ist eine enorm hohe Zahl an Flüchtlingen verglichen mit der niedrigen Einwohnerzahl des Libanons. Hat das Auswirkungen auf den Libanon? Hat die aktuelle Krise des Landes mit der Flüchtlingskrise zu tun?
Es ist so, dass die Anwesenheit der Flüchtlinge sich auf die wirtschaftliche Lage im Libanon auswirkt. Der Libanon ist ein kleines Land mit zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Problemen. Die Anwesenheit der Flüchtlinge bedeutete eine zusätzliche Belastung für die Regierung. Die Arbeitslosenquote ist gestiegen. Für Libanesen und Syrer ist es heute gleichermaßen schwer, Arbeit zu finden. Die wirtschaftliche Lage ist sehr schlecht. Die Regierung hat versucht, dies durch zusätzliche Steuern für die libanesische Bevölkerung zu lösen, was der Hauptgrund für die Demonstrationen war.

ACN: Die Lage im Irak und in Syrien ist besser geworden. Die meisten Flüchtlinge kommen von dort. Kehren sie allmählich in ihre Heimat zurück?
Nur eine kleine Minderheit ist in ihr Heimatland zurückgekehrt. Die meisten Flüchtlinge wandern auf der Suche nach einer besseren Zukunft nach Europa und Kanada aus. In Zahlé sind viele fortgegangen, ohne es uns zu sagen, denn sie wissen, dass wir gegen die Auswanderung sind. Die anderen Familien befinden sich noch unter unserer Obhut hier in Zahlé.

ACN: Wie hilft ACN?
ACN hilft beispielsweise, indem durch die Tafel „St. John the Merciful“ Flüchtlinge eine warme Mahlzeit pro Tag erhalten können, sowie durch humanitäre Hilfe in Form von Lebensmittelpaketen, Hygiene-Sets, Windeln, Heizöl, Mietzuschüssen, medizinischer Versorgung und Schulgeld.

Diese Hilfe ist für die Flüchtlinge sehr wichtig, insbesondere da der Libanon sich in einer Wirtschaftskrise befindet und viele Menschen arbeitslos sind. Die Libanesen leiden selbst seit langem unter dieser schweren wirtschaftlichen Lage, und das ist der Hauptgrund für die Unruhen und die Demonstrationen auf den Straßen.