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  • Menschen beim Gebet im Irak
  • Während des Gottesdiensts, Irak
  • Michael Najeeb Moussa, Dominikaner-Pater und chaldäisch-katholischer Erzbischof von Mossul und Akrê, Irak
  • Michael Najeeb Moussa, Dominikaner-Pater und chaldäisch-katholischer Erzbischof von Mossul und Akrê, Irak

Irak: Massenproteste als Zeichen der Hoffnung auf eine Änderung

Der Dominikaner Michael Najeeb Moussa ist chaldäisch-katholischer Erzbischof von Mossul und Akrê. Im Interview beantwortet er die Fragen von «Kirche in Not (ACN)» über die Lage der Christen im Irak, wo es bis zum Ausbruch der Coronavirus-Epidemie Demonstrationen gegen die Regierung im Land gegeben hatte. Amélie de La Hougue führte das Interview.

«Kirche in Not (ACN)»: Bischof Najeeb, wie ist die Lage heute im Irak angesichts der Coronavirus-Epidemie?
Bischof Najeeb: Gegenwärtig bleibt die gesundheitliche Situation im Irak prekär, es mangelt an Tests, um Infektionen mit dem Virus zu entdecken. Es wurden drakonische Massnahmen ergriffen, um angesichts des Coronavirus das Schlimmste zu vermeiden. Im grössten Teil des Landes herrscht Ausgangssperre.
Bei der Einhaltung der von der Regionalregierung ausgerufenen Massnahmen verhält sich die autonome Region Kurdistan standhaft und vorbildlich. Zwischen den Städten und den Dörfern sowie zwischen einzelnen Vierteln wurden die Strassen komplett gesperrt. Armee und Polizei wachen an den Kreuzungen, um jeden Verkehr zu unterbinden, die einzige Ausnahme sind Notfälle. Deshalb wurden bis heute im ganzen Irak nur 316 Infektionen festgestellt, davon bei ungefähr zwanzig Menschen in der Autonomen Region Kurdistan und ungefähr zehn in Mossul. Im ganzen Land sind ungefähr zwanzig Menschen an den Folgen der Epidemie gestorben.

Hat die Kirche besondere Massnahmen ergriffen?
Vorsichtshalber wurden die Kirchen geschlossen. Gottesdienste, liturgische Feiern und spirituelle Veranstaltungen wie das Rosenkranzgebet werden weiterhin vollständig und täglich live oder zeitversetzt über Internet oder Facebook übertragen. Die Ausgangssperre bietet die Gelegenheit, den Wert der Familie neu zu definieren und die Familienbindung zu stärken. Nun, da die Kirchen geschlossen sind, wird jede Familie zu einer lebendigen Hauskirche.

Gibt es unter diesen Umständen nach wie vor Proteste gegen die Regierung?
Die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Bagdad, die sich gegen Arbeitslosigkeit und Korruption wandten und den Sturz des Regimes forderten, sind aus Gründen der Vorsicht weniger geworden. Die Ausgangssperre und die gesundheitlichen Vorgaben des Gesundheitsministeriums werden eingehalten. Die Lage in Mossul und in der Ninive-Ebene bleibt relativ ruhig. Die Rückkehr der Christen nach Mossul erfolgt jedoch weiterhin nur langsam und zögerlich. Seit Juni 2014 haben die Vertreibung der Christen und die Massaker an den Jesiden sowohl die einen als auch die anderen zur Flucht aus ihrem Heimatland gezwungen. Die Mentalität etlicher Menschen hier wird noch immer von der fanatischen Ideologie beherrscht. Manche träumen immer noch davon, die Christen aus ihrer historischen Heimat zu verjagen. Heute, nach der militärischen Niederlage des sogenannten IS, wünscht sich die irakische Bevölkerung mehr denn je Solidarität, Recht und Ordnung und Freiheit. Die seit fünf Monaten andauernden Massendemonstrationen und der massive Aufstand gegen die seit 2003 im Land herrschende Korruption sind die besten Beispiele der Einheit und des guten Willens des irakischen Volkes.

Wie fügt sich die christliche Gemeinschaft in diese Bewegung ein?
Die christliche Gemeinschaft wünscht sich einen echten und tiefgreifenden Wandel des politischen Systems und eine kompetente Präsidialregierung, die säkular und nicht auf Clan-Zugehörigkeiten (wegen der Stammesgruppen) oder Konfessionen basiert. Die Christen waren bei den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Bagdad dabei, unter ihnen waren auch Märtyrer, die ihr Leben für die Sache geopfert haben. Aufgrund der schwierigen Situation, die sie hinter sich haben, zogen es die im Norden des Irak liegenden Städte Mossul und Kirkuk sowie die autonome Region Kurdistan vor, diese Massenproteste des Volkes bei sich zu verbieten. Die Menschen, die demonstrieren wollten, wurden aufgefordert, dafür nach Bagdad zu fahren, einem symbolträchtigen Ort, um ihrer Solidarität Ausdruck zu verleihen.

Wie sehen die Hoffnungen der Christen für die kommenden Monate und Jahre aus?
Die Hoffnung der Christen ist es, in ihrem eigenen Land in Frieden leben zu könnengleiche Rechte und Pflichten zu haben, auf Augenhöhe mit den anderen Irakern betrachtet zu werden und nicht als Bürger zweiter Klasse oder als dhimmis (nichtmuslimische Schutzbefohlene, ein diskriminierender Status für Nicht-Muslime) zu gelten. Sie fordern weiterhin, bestimmte ungerechte Gesetze zu ändern, darunter beispielsweise die erzwungene Konvertierung zum Islam von minderjährigen jungen Mädchen, wenn eines ihrer Elternteile zum Islam konvertiert. Die Christen fordern ebenfalls die Gleichberechtigung der Geschlechter in Fragen des Erbrechtes, bei Eheschliessungen, in der Religionsfreiheit usw. Im Irak ist der Islam nämlich Staatsreligion. Ausserdem stehen den Christen auf dem Arbeitsmarkt nicht die gleichen Möglichkeiten offen und sie haben keinen Zugang zu bestimmten beruflichen Positionen. Die einzige Hoffnung der Christen und der anderen hier angesiedelten Religionen wie die Jesiden, Mandäer, Zoroastrier oder Sarli wäre ein Verschwinden der salafistischen Denkweise. Doch leider setzt diese sektiererische Mentalität weiterhin die Scharia als irakische Rechtsprechung durch. Die Schulbücher und die sektiererischen Predigten in den Moscheen sind eine Quelle sozialer und politischer Missstimmung. Die Trennung zwischen Religion und Politik wäre ein Segen und könnte sicherlich den Kreuzweg erleichtern, den die hiesigen Christen seit dem siebten Jahrhundert erleiden.

Welche ist heute die grösste Befürchtung der Christen?
Die grösste Befürchtung, die die Christen davon abhält, nach Hause nach Mossul zurückzukehren, ist ein Wiederaufkeimen des Fundamentalismus.

Und was ist mit Ihnen persönlich, wie sehen Sie die Zukunft der Christen im Irak?
Ich persönlich bin in Bezug auf die Zukunft der Christen in der Ninive-Ebene und im Irak allgemein optimistisch. Über den Weg der Bildung und der Kultur können wir den Obskurantismus und die Gewalt besiegen. Direkt vor unseren Türen beweist die autonome Region Kurdistan, dass die Bürger jenseits ihrer religiösen Unterschiede in Frieden miteinander leben können. Die Volksunruhen und die friedlichen Proteste in Bagdad sind eine grosse Chance für einen Wandel im Irak. Früher oder später wird der Frieden das letzte Wort haben und nicht das Schwert.

«Kirche in Not (ACN)» hat die vom sogenannten IS im Irak verfolgten Christen stark unterstützt. Die in den letzten Jahren vom internationalen katholischen Hilfswerk geleistete Nothilfe beträgt über CHF 50 Mio. Zwischen Juni und August 2014 wurden mehr als 120 000 Christen ebenso wie Angehörige anderer Minderheiten von den Dschihadisten des IS aus Mossul und der Ninive-Ebene im Norden des Irak vertrieben. Um die Rückkehr der vertriebenen Bevölkerung in die vom IS zerstörten Ortschaften zu unterstützen, rief «Kirche in Not (ACN)»die Aktion „Zurück zu den Wurzeln“ ins Leben .

Das jüngste Projekt des internationalen Hilfswerks umfasst die Restaurierung der Pfarrkirche St. Kyria in Batnaja, einem chaldäisch-katholischen Dorf im Nordirak, sowie die Instandsetzung der Kapelle der Unbefleckten Empfängnis, der Bibliothek, des Pfarrsaals und des Pfarrhauses. Zu dem Projekt gehört auch der Wiederaufbau des völlig zerstörten Dominikanerklosters St. Oraha und des von den Ordensschwestern betriebenen Kindergartens, der 125 Kinder aufnehmen kann.